- in Allgemein by Brigitte Berchtold
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Zwei Täler weiter
Ein weiser Mann nimmt seinen Schüler mit auf einen hohen Berg, um ihn von dort oben aus zu lehren. Es gab viele Berge in der Gegend, die allesamt etwa gleich hoch waren, so dass man von dem Berg zwar bequem das davor liegende Tal überblicken konnte, das nächste Tal, hinter dem nächsten Berg und hinter dem übernächsten Berg und so weiter, sah man von dieser Position aus jedoch nicht.
Die Beiden setzten sich und blickten runter auf die grüne Wiese in deren Mitte ein kleiner See lag. Alles war ruhig und friedlich, als ein Reiter auftauchte, zu dem See ritt und dort eine Pause machte. Er lud einen Rucksack von seinem Pferd, legte ihn auf die Wiese. Das Tier und er gingen ans Wasser um sich zu erfrischen. Da tauchte ein zweiter Reiter am Horizont auf, der sich dem See immer schneller näherte und plötzlich vom Pferd aus, den Rucksack an sich riss und davon ritt.
Der Schüler, hoch oben als Beobachter auf dem Berg sitzend, regte sich sofort darüber auf und meinte, dass der dreiste Dieb für seine Tat bestraft gehörte. Einem Menschen, der nichtsahnend Rast macht einfach sein Eigentum zu stehlen sei ein Verbrechen, so meinte er.
Als der Reiter mit seinem Pferd weiterziehen wollte, bemerkte er, dass der Rucksack weg war.
In der Ferne sah er einen Reiter im schnellen Galopp und kombinierte blitzgescheit, dass müsse der Dieb sein. Er schwang sich auf das Pferd und nahm die Verfolgung auf. Beim Näherkommen sah er einen Rucksack auf dessen Pferd, kurzerhand zückte er die Pistole, schoss und der Mann fiel tot vom Pferd, der Rucksack plumste zu Boden. Erst jetzt erkannte der Reiter, dass es gar nicht derselbe Rucksack war, den er kurz vorher am See abstellte und er trat das Pferd heftig in die Seiten und ritt in eine Staubwolke eingehüllt davon.
Oben auf dem Berg saß der Schüler völlig fassungslos und weinte vor Trauer, um den unbekannten getöteten Reiter. Der Lehrer beruhigte ihn und klärte ihn auf, was tatsächlich geschehen ist:
Der erste Reiter der an den See kam, klaute den Rucksack ein Tal weiter zuvor einem Familienvater, der darin das Essen für seine Familie transportierte und der den Rucksack nur kurz für die Dauer einer kleinen Rast an einem See abgestellt hatte. Die Familie war sehr arm und der Vater hatte für die Lebensmittel die ganze Woche schwer gearbeitet, sie sollten für das ganze Wochenende reichen.
Der dritte Reiter war auf der Flucht und hatte den Rucksack bei einem Raubüberfall geklaut, den er zwei Täler weiter kurz vorher verübte und bei dem er ein kleines Mädchen vergewaltigt und den Rest der Familie erschossen hatte.
Wie man an dieser Geschichte sieht, ist es unmöglich Dinge zu beurteilen, wenn man zwischen Bergen eingeklemmt sitzt und nicht den völligen Überblick hat. So geht es den meisten von uns. Wir ernennen Täter und Opfer, maßen uns dadurch die Rolle des Richters oder Anklägers an, derweilen sind wir gefangen in unserer eingeschränkten Wahrnehmung und sehen den Gesamtzusammenhang nicht.